Der Autor

Karl-Martin Hentschel ist im Bundesvorstand des Vereins „Mehr Demokratie e. V.“. Er war 1996–2009 Landtags-Abgeordneter in Schleswig-Holstein und Fraktionsvorsitzender während der rot-grünen Simonis-Regierung.

Über den Tellerrand schauen beim Wahlrecht

Der größte Bundestag aller Zeiten ist gewählt und die Debatte zur Reform des Bundestagswahlrechts ist festgefahren. Warum blicken wir eigentlich nicht über den Tellerrand? Die Schweiz, Irland, alle skandinavischen Länder und Österreich sowie viele neue Demokratien machen es vor: Man kann ein Persönlichkeits­wahlrecht mit einer strikten Proportionalität verbinden – ohne dass Überhangmandate entstehen. Und darüber hinaus den Wähler*innen die Chance geben, die Kandidat*innen ihrer Wahl persönlich zu wählen.

Mehrheitswahl – Personenwahl
„Demokratie ist die Wahl durch die beschränkte Mehrheit anstelle der Ernennung durch die bestechliche Minderheit.“
- George Bernard Shaw

Immer wieder wird von konservativen Experten das Wahlsystem in Großbritannien und den USA gelobt. Dort wählen die Bürger*innen „ihren“ örtlichen Abgeordneten. So gibt es einen persönlichen Bezug. Und wenn sich Abgeordnete durch Stimmverhalten oder durch persönliche Verfehlungen unbeliebt machen, bekommen sie bei der nächsten Wahl persönlich die Konsequenz zu spüren: Sie werden nicht wiedergewählt oder erst gar nicht aufgestellt. 

Trotzdem werden fast immer Vertre­ter*in­nen von Parteien gewählt. Warum? Nun – die Wähler*innen wollen zwar Personen wählen, die sie kennen. Sie wollen aber auch wissen, welches Programm diese Abgeordneten vertreten und wofür sie ggf. stimmen werden. In den USA hat das dazu geführt, dass es seit langem nur zwei Parteien im Parlament gibt – Kandidat*innen von kleinen Parteien oder Minderheiten haben keine Chance. In Großbritannien gibt es zwar mehr Parteien im Parlament, aber dafür gehen noch viel mehr Stimmen verloren. Wenn ein Wahlkreis nur mit 25 % der Stimmen gewonnen wird – was nicht selten vorkommt, dann sind alle anderen Stimmen verloren – „the winner takes it all“. Dadurch sind kleine Parteien auch in England extrem unterrepräsentiert.

Plurale Demokratie und Verhältniswahl
Diese Vernachlässigung der Minderheiten stellt für die Akzeptanz der Demokratie ein ernstes Problem dar. Vordenker der Demokratie betonen daher den Schutz und die Berücksichtigung der Minderheiten. Und ein gutes Wahlsystem sollte diesen Minderheiten zumindest eine faire Chance geben. In einigen Staaten wurde deshalb die Verhältniswahl eingeführt, bei der alle Parteien entsprechend ihrer Stimmenzahl proportional im Parlament vertreten sind. 

Aber eine reine Verhältniswahl hat auch erhebliche Nachteile. Es gibt keine Personenwahl mehr und damit keinen persönlichen Bezug zwischen Wähler*innen und Gewählten. Es werden nur noch Parteien gewählt. Und da nun viele kleine Parteien ins Parlament kommen, haben diese ein großes Erpressungspotential und erzwingen die Berücksichtigung ihrer Sonderwünsche – ein typisches Beispiel dafür ist die Situation in Israel. 

Deshalb wurde in vielen…

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