Der Autor

Bijan Moini ist Jurist bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte und Autor. Zuletzt erschien von ihm Unser gutes Recht (Hoffmann und Campe 2021).

Ziviler Ungehorsam als Stresstest

In der Geschichte der Menschheit hat es immer wieder zivilen Ungehorsam gegeben, um Missstände in der Gesellschaft anzuklagen. Verstoßen Menschen öffentlich und gewaltfrei gegen Gesetze, um ein gewichtiges Anliegen durchzusetzen, prallen Recht und Moral, Legalität und Legitimität aufeinander. Die Letzte Generation ist das jüngste und ein besonders kontroverses Beispiel für zivilen Ungehorsam. Der Staat verfolgt die Aktivist*innen mit zunehmendem Druck. Was sind die Voraussetzungen legitimen Ungehorsams und wie geht der Staat angemessen mit ihm um?

Was ist ziviler Ungehorsam und wann ist er legitim?
John Rawls, einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, definiert in seinem wichtigsten Werk Eine Theorie der Gerechtigkeit zivilen Ungehorsam als „öffentliche, gewaltfreie, gewissenhafte und zugleich politische Handlung, die gegen das Gesetz verstößt und in der Regel mit dem Ziel erfolgt, eine Änderung des Gesetzes oder der Politik der Regierung herbeizuführen“ (Rawls 1971, 401). Entscheidend ist die Öffentlichkeit, also dass sich die Handelnden zu erkennen geben und die Konsequenzen ihrer Handlung akzeptieren. Der bedeutendste deutsche Philosoph der Nachkriegszeit, Jürgen Habermas, definiert zivilen Ungehorsam ganz ähnlich (Habermas 1983, 35). Dieses gemeinsame Verständnis wird dem vorliegenden Beitrag zugrunde gelegt. Ziviler Ungehorsam hat verschiedene Ausprägungen. Er kann darin bestehen, eben jene Regel zu verletzen, die er beseitigen möchte. Mittel und Zweck fallen dann zusammen. Als sich Rosa Parks im Jahr 1955 auf einen Platz im Bus setzte, der nach den damals herrschenden Regeln für Weiße reserviert war, tat sie genau das, was sie einforderte. Ebenso wie Mahatma Gandhi, der ein Vierteljahrhundert zuvor mit 78 Anhänger*innen 385 Kilometer bis nach Dandi am Arabischen Meer lief, um Salz zu sammeln. Mit seinem Marsch protestierte er gegen die hohen Steuern auf Salz und gegen das Salzgesetz der britischen Kolonialherren, das es Menschen in Indien verbot, selbst Salz zu gewinnen. Die Frauen in Iran wiederum protestieren seit Jahren, insbesondere aber seit 2022 gegen die Pflicht, ein Kopftuch zu tragen, indem sie in der Öffentlichkeit ihr Haar zeigen. Die Legitimität dieser Regelbrüche ergibt sich unmittelbar aus der Illegitimität der Regel selbst. Die Bewertung der Handlung fällt leicht, wenn die Bewertung der angeklagten Regel leichtfällt. In der zweiten Variante des zivilen Ungehorsams besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Mittel und Zweck. Eine für sich genommen legitime Regel wird gebrochen, um eine damit nicht zusammenhängende Ungerechtigkeit anzuklagen. Der Boxer Muhammad Ali weigerte sich 1966, vom Militär eingezogen zu werden, und protestierte so gegen den Vietnamkrieg der USA. Als Greta Thunberg 2018 mit ihren Protesten vor dem Parlament in Stockholm begann, verletzte sie die Schulpflicht, es ging ihr aber um etwas ganz anderes: das Klima. Und auch die Protestformen der Letzten Generation – Straßenblockaden, Beschmieren von Ausstellungsstücken und Gebäuden – zielen unmittelbar nur auf das höhere Ziel, die Erderwärmung zu stoppen. Die Bewertung der Handlung ist in diesen Fällen schwieriger: Ist der Verstoß gegen Gesetze legitim, die in keinem inneren Zusammenhang zu dem Anliegen stehen? Es genügt zur Legitimität des Protests nicht, dass er die Definition des zivilen Ungehorsams erfüllt. Wer zum Beispiel inmitten einer Pandemie in öffentlichen Verkehrsmitteln gegen die Maskenpflicht verstößt, weil er die Corona-Pandemie für Humbug hält, handelt zwar öffentlich, gewaltfrei und beruft sich auf sein Gewissen; die Handlung ist aber trotzdem nicht legitim. Entscheidend ist dafür nämlich nicht die persönliche Moral, so Rawls, sondern dass die gemeinsame Gerechtigkeitsvorstellung verletzt ist. Habermas spricht vom verallgemeinerungsfähigen Interesse und nennt in diesem Zusammenhang die universellen Menschenrechte. Rawls stellt drei weitere Kriterien auf, die vorliegen müssen, damit ziviler Ungehorsam legitim ist: Der angeklagte Missstand muss seit langem bestehen und offensichtlich ungerecht sein. Der zivile Ungehorsam dagegen muss das letzte Mittel sein. Und er muss koordiniert und organisiert sein, also – in meinen Worten – eine Chance auf Erfolg haben. Die Dauer eines Missstands und seine offensichtliche Ungerechtigkeit sind jedoch keine überzeugenden Kriterien für die Legitimität zivilen Ungehorsams. Ein Missstand kann sehr kurzfristig eintreten und trotzdem große Wucht entfalten – man denke an die radikalen Quarantänevorschriften in chinesischen Millionenstädten während der COVID-19-Pandemie –, ohne dass ebenso kurzfristige Abhilfe auf politischem Wege aussichtsreich erscheint. Ungehorsam dagegen kann legitim sein. Außerdem lässt sich lange darüber streiten, ob eine Ungerechtigkeit offensichtlich ist. Es scheint überzeugender, statt auf die Offensichtlichkeit auf die Schwere der Ungerechtigkeit abzustellen. Das Steuerprivileg für Hotels zum Beispiel mag aus Sicht von Unternehmer*innen in verwandten Branchen ungerecht sein. Die öffentliche Weigerung, höhere Steuern zu zahlen, würde aber wohl kaum jemand als legitimen Ungehorsam einstufen. Rawls’ zweites Kriterium klingt ebenfalls strenger, als es sein sollte. Vom „letzten Mittel“ spricht man in der Regel in akuten Gefahrensituationen, in denen man zum Beispiel zur Selbstverteidigung nur noch tödliche Gewalt anwenden kann. Befänden sich die Ungehorsamen aber in einer Notwehrsituation oder – in der Regel treffender – in einer Notstandslage, wären ihre Handlungen meist gerechtfertigt, also legal. Der „zivile Ungehorsam“ wäre dann schlicht eine erlaubte Verteidigungshandlung und bedürfte weder eines eigenen Begriffes noch einer außerrechtlichen Begründung seiner Legitimität. Der Ungehorsam muss also nicht in einem strengen Sinne letztes Mittel sein. Gesellschaftliche Missstände bedürfen oft prozedural und technisch komplexer Lösungen. Der Einwand, es doch zunächst oder weiterhin im politischen Prozess zu versuchen, wird da so gut wie immer plausibel klingen. Für die Legitimität zivilen Ungehorsams genügt es deshalb, dass der Erfolg legaler Alternativen unwahrscheinlich ist. Rawls’ drittes Kriterium – der Organisationsgrad des Ungehorsams – berücksichtigt, dass chancenloser Protest sinnlos und damit illegitim wirkt. Wer schon für sich in Anspruch nimmt, aus Protest gegen Gesetze zu verstoßen, sollte eine Vorstellung von seinem Weg zum Ziel haben, eine Theory of Change. Allerdings lässt sich der angestrebte Erfolg nicht immer gut definieren, geschweige denn messen, sodass Prognosen über die Erfolgsaussichten zivilen Ungehorsams fehlerträchtig sind. Diese Unsicherheit muss zugunsten des zivilen Ungehorsams gehen. Denn im Vorhinein wirkt nahezu jeder zivile Ungehorsam aussichtslos, ob Rosa Parks Weigerung, den Sitzplatz in Bus Nr. 2857 nicht freizugeben, oder Greta Thunbergs einsamer Protest vor dem Schwedischen Reichstag. Das bedeutet, dass allenfalls eine offenkundige Aussichtslosigkeit die Legitimität zivilen Ungehorsams schmälern kann. Legitim ist ziviler Ungehorsam also, wenn er ein verallgemeinerungsfähiges Interesse von erheblichem Gewicht verfolgt, wenn legale Alternativen wahrscheinlich erfolglos blieben und das Ziel des Protests nicht aussichtslos erscheint. 

Wie kann der Staat auf zivilen Ungehorsam reagieren? 
Es liegt in der Natur des zivilen Ungehorsams und entspricht auch dem Kalkül der Ungehorsamen, dass der Staat auf den Protest reagiert. In einer Demokratie sind verschiedene Reaktionen denkbar: Der Staat kann den Protest dulden, wozu er sich ebenso aktiv entscheiden müsste wie für die Alternativen. Er könnte den Protest unterbinden oder beenden, ihn bestrafen oder eine Mischung aus allem Vorgenannten einsetzen. Und er könnte ihm nachgeben und das Protestziel ganz oder teilweise erfüllen. Anders als der zivile Ungehorsam selbst sind alle genannten Reaktionen zwar legal, aber nicht jede (legale) Reaktion des Staates ist legitim. Nähern wir uns dem Problem über ein extremes Beispiel. Die Reaktionen auf die Forderung der afroamerikanischen Bevölkerung, die Rassentrennung aufzuheben, waren nach damaligem US-Recht legal: die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen, Festnahmen, Strafen. Legitim waren sie nicht, weil die hierdurch aufrechterhaltene Rassentrennung höchst unmoralisch war. Bei legitimem direktem zivilem Ungehorsam (Rosa Parks, Mahatma Ghandi) ist Nachgeben die einzig legitime Reaktion, und durch das Nachgeben wird zugleich der zivile Ungehorsam legalisiert. Bei indirektem Ungehorsam ist die Legalisierung des Protests gar nicht das Ziel: Es ging Muhammad Ali nicht um die Wehrpflicht als solche und Greta Thunberg nicht um die Schulpflicht, sondern es ging ihm um einen illegitimen Krieg bzw. ihr um unzureichenden Klimaschutz. In solchen Fällen kann nicht nur der Protest legitim sein, sondern auch seine Unterbindung und Bestrafung durch den Staat. Entscheidend ist aber, dass dieser bei seiner Reaktion die Legitimität des Protests berücksichtigt. Denn behandelte er (legitimen) zivilen Ungehorsam wie jedes andere gesetzeswidrige Verhalten, würde das dem moralischen Wert des Ungehorsams nicht gerecht. Der Staat muss die Spielräume nutzen, die das Recht ihm bietet, sowohl bei der Wahl der Mittel als auch bei ihrer Anwendung. Sonst sind seine Reaktionen nicht legitim. Solche Spielräume bietet unser Recht zuhauf: Ob die Polizei präventiv gegen einen Protest vorgeht und mit welchen konkreten Mitteln, liegt in aller Regel in ihrem Ermessen. Sie kann versuchen, Protest vor Ort zu verhindern, kann aber auch im Vorfeld Aktivist*innen zu Hause aufsuchen, Platzverbote erteilen oder sie unter bestimmten Voraussetzungen in Gewahrsam nehmen (dies je nach Bundesland unterschiedlich lang). Dasselbe gilt für die Beendigung laufender Proteste, ganz besonders dafür, mit welchen Zwangsmitteln die Auflösung einer Versammlung durchgesetzt wird. Denkbar ist viel, von freundlichen Aufforderungen über Wegtragen bis hin zum gezielten Zufügen von Schmerzen durch spezielle Griffe. Stehen Straftaten im Raum – wie etwa die Nötigung der blockierten Verkehrsteilnehmer –, ist die Staatsanwaltschaft zwar in der Regel verpflichtet, sie zu verfolgen. Doch sie kann bei Geringfügigkeit der Tat mit Zustimmung des Gerichts von der Verfolgung absehen oder – bei etwas schwerer wiegenden Taten – mit Zustimmung des Gerichts und der Beschuldigten gegen Auflagen und Weisungen vorläufig von der Anklageerhebung absehen. Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, kann das Strafgericht Spielräume bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe nutzen, die die Strafbarkeit begründen, wenn diese Begriffe Anknüpfungspunkte für die Berücksichtigung des Motivs der Angeklagten bieten. Insbesondere aber auch bei der Strafzumessung kann das Gericht berücksichtigen, dass die Angeklagten legitimen zivilen Ungehorsam geübt haben, kann also geringe Geldstrafen verhängen statt hohe Geld- oder gar Freiheitsstrafen. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass unser Staat kaum Mechanismen für einen einheitlichen Umgang mit einer bestimmten Form zivilen Ungehorsams kennt. Im Gegenteil, manches wirkt sogar zugunsten einer Zersplitterung: der Föderalismus, in dem Polizei und Staatsanwaltschaft den jeweiligen Landesinnen- bzw. Landesjustizministerien unterstehen; und die richterliche Unabhängigkeit, die es den einzelnen Strafrichter*innen überlässt, welches Urteil sie über eine Straftat fällen. 

Sind die Aktionen der Letzten Generation legitim? 
Was bedeutet all das nun für die Letzte Generation? Ist ihr Ungehorsam zivil und legitim? Und wenn ja, reagiert der Staat darauf angemessen? Die Letzte Generation verstößt – nicht mit jeder Aktion, aber mit vielen – gegen das Gesetz, sie tut das öffentlich, beruft sich auf ihr Gewissen und will eine Änderung der Klimapolitik herbeiführen. Es liegen also alle von Rawls’ Definitionsmerkmalen des zivilen Ungehorsams vor, nur über eines lässt sich diskutieren: die Gewalt. Es ist eine alte juristische Streitfrage, ob die Blockade einer Straße die Anwendung von „Gewalt“ gegenüber den Blockierten ist, weil diese nicht weiterfahren können. Falls ja, wäre der Tatbestand der Nötigung (Paragraph 240 des Strafgesetzbuchs) erfüllt, wäre die Blockade also eine Straftat. Für die Frage der Qualifikation von Sitzblockaden als zivilem Ungehorsam spielt es jedoch keine Rolle, ob diese „Gewalt“ im Sinne des Nötigungsparagraphen sind oder nicht. Denn die Blockade von Fahrzeugen hat mit einem natürlichen Verständnis von „Gewalt“, das der Forderung nach der „Gewaltfreiheit“ von zivilem Ungehorsam zugrunde liegt, nichts zu tun. Dieses natürliche Verständnis setzt eine Einwirkung auf die körperliche Integrität voraus; ohne sie ist der Ungehorsam zivil. Was uns unmittelbar zum zweiten diskussionswürdigen Punkt führt: Ist Ungehorsam schon dann zivil, wenn er keine Gewalt gegen Menschen übt oder darf auch keine Gewalt gegen Sachen gerichtet werden? Darüber besteht Streit. Wohl die meisten lehnen auch Gewalt gegen Sachen ab, andere halten diese Gewaltform unter bestimmten Voraussetzungen für legitim. Eine vermittelnde Position könnte die Beschädigung von Sachen für legitim halten, die mit dem Protest unmittelbar zusammenhängen. Würden etwa zum „Schutz“ der deutschen Grenzen vor Geflüchteten Selbstschussanlagen aufgestellt, wäre die Beschädigung dieser Anlagen ziviler Ungehorsam. Die Letzte Generation hat jedoch Sachen beschädigt, die in keinem Zusammenhang mit ihrem Protestziel stehen. Zum Beispiel haben einzelne Aktionen in Museen zu Schäden an wertvollen Bilderrahmen geführt. Nach dem hier vorgeschlagenen Maßstab sind solche Protestformen kein ziviler Ungehorsam – anders als das bloße Beschmieren von Kunstwerken, die durch Glasscheiben geschützt sind, also nicht beschädigt werden. Hinsichtlich jener Aktionen der letzten Generation, die als ziviler Ungehorsam einzuordnen sind, stellt sich weiter die Frage nach ihrer Legitimität: Hat das Anliegen ein hinreichendes Gewicht? Ist der Protest das letzte Mittel? Und hat er irgendeine Aussicht auf Erfolg? Der Schutz des Klimas hat einen hohen Rang, moralisch sowieso, aber auch rechtlich. Artikel 20a des Grundgesetzes lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere ...“. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner berühmten Entscheidung zum Klimaschutzgesetz vom 24. März 2021 (Aktenzeichen 1 BvR 2656/18) erklärt, dass Art. 20a des Grundgesetzes sowie die Pflicht zur Schonung der Freiheit künftiger Generationen den Staat zum Klimaschutz und zur Herstellung von Klimaneutralität verpflichten. Über die zwei weiteren Kriterien für die Legitimität der Proteste der Letzten Generation lässt sich allerdings streiten. Der Letzten Generation werfen Politiker*innen aller Couleur vor, sie verhalte sich „undemokratisch“ und solle doch versuchen, sich mit ihren Anliegen in Wahlen durchzusetzen. Wenn aber eine Minderheit gar keine Aussicht hat, für ihr Anliegen je eine Parlamentsmehrheit zu gewinnen, darf man ihr nicht vorhalten, sie hätte es nicht versucht. Es ist kein Zufall, dass homosexuelle Paare entscheidende Rechte nicht in Form von Gesetzen, sondern vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten haben. Die Letzte Generation verlangt besseren Klimaschutz vor allem auch mit Blick auf junge Menschen, die länger mit den Folgen heute verursachter Klimaschäden leben müssen. Junge Menschen sind aber in einer alternden Gesellschaft im Parlament stark unterrepräsentiert. Sie haben auch nicht dieselben Möglichkeiten wie ältere Menschen, auf andere Weise (Verbände, Parteispenden, Netzwerke) auf den politischen Prozess einzuwirken. Vor allem aber tut sich eine Demokratie, in der die Regierung alle vier Jahre wiedergewählt werden möchte, schwer damit, kurzfristig schmerzhafte, aber langfristig notwendige Politik zu machen. Die Letzte Generation auf den demokratischen Prozess zu verweisen, greift deshalb zu kurz. Es bleibt die Frage, ob die Aktionen der Letzten Generation irgendeine Aussicht auf Erfolg haben. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie ihr Erfolg definiert wird. Sie wird ganz sicher nicht erreichen, dass Deutschland binnen kurzer Zeit alles Erforderliche in die Wege leitet, um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen. Aber wie bei der Anti-Atom-Bewegung könnte auch die Letzte Generation trotz der gebotenen Eile in deutlich längeren Zeiträumen denken. Ein Erfolg wäre es dann schon, das Bewusstsein für die Dringlichkeit von Klimaschutz in der Bevölkerung nachhaltig verankert zu haben. Bisweilen wird der Letzten Generation aber sogar das abgesprochen. Ihr Protest sei kontraproduktiv, heißt es aus vielen Mündern, denn Klebeaktionen brächten die Bevölkerung nur gegen den Klimaschutz auf. Es ist jedoch mindestens unklar, ob das tatsächlich stimmt. Und diese Unsicherheit geht zugunsten der Aktivist*innen. Die gewaltfreien Aktionen der Letzten Generation sind also ziviler Ungehorsam und legitim. Sind die staatlichen Reaktionen auf den Protest es auch? 

Geht der Staat richtig mit der Letzten Generation um? 
Gegen die Proteste der Letzten Generation hat der Staat alle Register gezogen: Straßenblockaden wurden verboten und aufgelöst, Aktivist*innen von der Straße gelöst und davongetragen; manche Personen wurden für die Dauer von angekündigten Protesten festgesetzt; viele wurden in sog. Präventivgewahrsam genommen; es kam und kommt zu sehr vielen Straf­urteilen, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, wegen Nötigung, wegen Sachbeschädigung; und manche strafrechtliche Ermittlungen werden sogar von Überwachungsmaßnahmen begleitet. Je länger die Letzte Generation sich in zivilem Ungehorsam übt, umso heftiger werden die staatlichen Reaktionen. Das mag vor dem Hintergrund der klar negativen öffentlichen Meinung und der Hartnäckigkeit der Letzten Generation logisch sein. Zwingend ist es nicht. Wie oben dargestellt, hat der Staat Spielräume. In mindestens vier Beziehungen erweisen sich die staatlichen Reaktionen auf die legitimen Aktionen der Letzten Generation als ihrerseits illegitim, weil der Staat diese Spielräume nicht zugunsten der Aktivist*innen nutzt. Da wäre zunächst der Präventivgewahrsam, der insbesondere in Bayern, wo er länger angeordnet werden kann als in jedem anderen Bundesland, sehr häufig und oft bis zum Maximum von einem Monat verhängt wird. Das verhindert zwar, dass die Betroffenen während des Gewahrsams den Verkehr blockieren; doch das schärfste Präventivinstrument der Polizei – den Freiheitsentzug – bis zur Höchstgrenze auszureizen, schätzt die Legitimität des zivilen Ungehorsams der Letzten Generation zu gering – und steht auch sonst außer Verhältnis zu der Belästigung durch eine Verkehrsblockade. Ebenfalls bereits unverhältnismäßig – und damit rechtswidrig – ist oft der Einsatz von Schmerzgriffen durch die Polizei, um Sitzblockaden aufzulösen. Die Polizist*innen verwenden gezielt Schmerzen als Mittel, um Gehorsam von den Ungehorsamen zu erzwingen – selbst wenn die Einsatzsituation ein Wegtragen der Betroffenen erlaubt hätte. Unabhängig von seiner zweifelhaften Legalität ist der Einsatz von Schmerzgriffen gegenüber legitimem zivilem Ungehorsam seinerseits illegitim. Für jene Sitzblockaden, die als Nötigung strafbar sind, verhängen die Gerichte gemeinhin niedrige Geldstrafen. Denn die Belastung, die ein Stau bedeutet, ist in aller Regel gering. Doch einzelne Strafgerichte haben mittlerweile gegenüber Aktivist*innen der Letzten Generation Freiheitsstrafen verhängt – in Einzelfällen sogar, ohne sie zur Bewährung auszusetzen. Das Amtsgericht Heilbronn begründete eine solche Entscheidung damit, dass die Angeklagten nichts anderes beeindrucken würde (Urteil vom 6. März 2023 – Aktenzeichen 26 Ds 16 Js 4813/23). Diese Urteile sind durchaus legal, tragen aber wiederum der Legitimität des Protests der Letzten Generation nicht genügend Rechnung. Besonders hervorzuheben ist schließlich, dass einzelne Staatsanwaltschaften, insbesondere die Generalstaatsanwaltschaft München, die Letzte Generation inzwischen der Bildung einer kriminellen Vereinigung im Sinne des Paragraphen 129 Strafgesetzbuch verdächtigen. Der Zweck der Organisation sei auf die Begehung von erheblichen Straftaten gerichtet, behaupten sie. Die Einstufung als kriminelle Vereinigung hat weitreichende Konsequenzen, weil damit Unterstützungshandlungen – Spenden zum Beispiel – ihrerseits strafbar sein können und weil die Polizei auf diese Weise Hausdurchsuchungen und tiefgreifende Überwachungsmaßnahmen durchführen kann. Sogar das Pressetelefon der Letzten Generation hat die Polizei auf dieser Grundlage abgehört, sodass auch Journalist*innen betroffen waren. Die Generalstaatsanwaltschaft München hätte bei Paragraph 129 Strafgesetzbuch allerdings Spielraum gehabt, die Letzte Generation nicht als kriminelle Vereinigung einzustufen – zu diesem Ergebnis kamen zum Beispiel ihre Berliner Kolleg*innen.

Fazit 
Der Umgang mit dem zivilen Ungehorsam der Letzten Generation ist eine Herausforderung für unseren Rechtsstaat. Leider scheitert er zunehmend an ihr. Soweit der Protest legitim ist, darf sich der Staat nämlich nicht darauf beschränken, sein übliches Präventions- und Strafprogramm abzuspulen. Das wird dem Anliegen und der gewählten Form der Aktionen nicht gerecht. Eine angemessene Zurückhaltung gegenüber legitimem Protest ist kein Zeichen von Schwäche, im Gegenteil: Es stärkt den Rechtsstaat, weil es die Chance zur Integration der Abweichler*innen aufrechterhält, statt sie von dem System, das sie im Grunde respektieren, zu entfremden.

Literatur

Habermas, Jürgen 1983: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. In: Glotz, Peter (Hg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., S. 29–53.

Rawls, John 1971: zit. n.d. deutschen Ausgabe, Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M. 1975.

Weiterführende Lesetipps

Zur Einführung in die Entwicklung des Gewaltbegriffs in der Rechtsprechung ein sehr guter Wikipedia-Artikel: https://t1p.de/fkmnz [letzter Abruf: 15.10.2023].

Der Verfassungsblog hat eine ganze Reihe an Beiträgen zur juristischen Einordnung der Proteste der Letzten Generation in einem lesenswerten Band zusammengeführt, der sich hier abrufen lässt: https://t1p.de/n85ho [15.10.2023].

Zu den Stationen der „Ehe für alle“ in Deutschland Anna Katharina Mangolds prägnante Darstellung für die Bundeszentrale für politische Bildung: https://t1p.de/2ubg6 [15.10.2023].

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